.. wenn man einer 60 jährigen Therapeutin erzählt, dass man regelmäßig freiwillig die Kloschüssel umarmt.
Und sie darf und sollte erzählt werden, auch wenn sie mitunter widersprüchlig, schmerzlich und unbequem ist. Heute habe ich mich entschieden, euch meine Toilettengeschichte zu erzählen. Es ist ein Erfahrungsbericht, der vielleicht ein wenig ehrlicher vermitteln kann, wie sich ein Betroffener fühlt, der mit einer Essstörung lebt. Und ich hoffe ihr verzeiht mir den ironischen humoristischen Unterton. Er macht es mir leichter, darüber zu sprechen.
,,... natürlich hab ich nichts gesagt. Ich weiß ja auch nicht. Ich wollte sie ja nicht belasten und meine Mama hätte unheimlich sensibel reagiert und sich selbst die Schuld gegeben. Also hab ich den Mund gehalten. Glauben Sie mir, mir war da ...
,,.. zum Kotzen zumute?"
Mein Gesicht lief rot an, als meine Therapeutin vor einem Jahr einfach so locker aussprach, was ich seit 5 Jahren schönredete. Regelmäßig mit Absicht kotzen. Freiwillig nach jedem Völlegefühl oder auch einfach so zum Druckabbau erbrechen. So simpel kann man die sogenannte Ess-Brechsucht Bulimie beschreiben.
Bleiben wir doch gleich ehrlich:
Ich bin 23 und kotze gern und oft.
Die Gründe sind so simpel wie kompliziert und decken sich erschreckend genau mit dem Wikipediaeintrag. Mobbingerfahrungen in der Schule - empfundener Leistungsdruck - totgeschwiegene Konflikte in der Familie.
Und trotzdem bevorzugte ich lange lieber den Ausdruck ,,Essstörung", denn ,,Störung" implizierte für mich, dass mein Leben eigentlich wunderbar ist und nur ein paar kleine Mängel behoben werden müssen, ähnlich wie ein kurzes gelegentliches Bildrauschen während der eigenen Lieblingssendung.
,,Krankheit" oder ,,Sucht" hingegen klang für mich nach diesen nervtötenden "Mein Leben am seidenen Faden"-Essstörungs-Aufklärungsbüchern, die man damals in der Schule beim Magersuchts-Präventionsprojekt zugeschoben bekam. Soweit ich mich erinnere, waren die Mädchen darin grundsätzlich unsympathisch, manisch depressiv und zwangsneurotisch. Sie hatten wenige und ebenso unsympatische Freunde, Angst vor Jungs und bösartige Eltern. Und sie hatten immer diesen Moment, wo alles zusammenbrach, sie weinend vor der Toilettenschüssel auf die Knie sackten und ihr Leben überdachten.
Meine Toilettengeschichte begann hingegen so schleichend und nebensächlich, dass ich sie bis heute vermutlich als etwas ekligen Spleen abgetan hätte, wenn mir nicht das Gebiss abbröckeln und die Magensäure hochsteigen würde. Ich hatte und habe ein wunderbares Leben mit gelegentlichen Hoch- und Tiefpunkten und würde mich nun mit 23 als eine grundzufriedende, sozial integrierte und lebenshungrige Studentin bezeichnen. Meine Beziehung ist abwechslungsreich und meine Unileistungen nicht beklagenswert. Ich habe tolle Freunde und unternehme viel.
Trotzdem hänge ich ab und zu über der Kloschüssel und kotze ein bisschen.
,,Warum haben Sie fünf Jahre gewartet, bis Sie sich einen Ruck gaben?"
Die Frage war unangenehm, obwohl ich mich darauf vorbereitet hatte.
,,Das ist so ne Modekrankheit. So viele andere Frauen haben das auch und ich dachte mir ..."
,,... dass Sie nicht nicht so sind wie viele andere Frauen?"
Begonnen hatte alles vor 5 Jahren auf einer Familienfeier. Ich hatte zuvor über mehrere Monate hinweg auf natürlichem Weg viel abgenommen, weil ich das Mobbing in der Schule (,,Du stinkst", ,,deine Brüste wackeln eklig") nicht mehr ausgehalten hatte. Die Reaktionen auf meinen schlankeren Körper waren erschreckend. Mit dem neuen Gewicht kam mehr Selbstbewusstsein und plötzlich verstummten die Spottrufe. Aber mit den ,,Wow, deine Figur ist echt viel schöner"-Kommentaren wuchs auch die Angst in mir, dass alles wieder so werden würde wie früher, wenn ich wieder dicker wäre. Also saß ich panisch auf dem Stuhl zwischen meinen Verwandten, vollgefuttert mit Kuchen, und fühlte Panik in mir aufsteigen. Das erste Mal Finger-in-den-Hals-stecken wurde von mir natürlich mit einem ,,Einmal und nie wieder" abgetan.
Aus einmal wurde ,,in Ausnahmefällen geht das schon" und irgendwann ein ,,naja, jetzt ist's auch schon egal". Ein Jahr später gehörte es für mich zum Alltag. Manchmal bis zu 6 mal am Tag, manchmal 5 Tage gar nicht. Ich wusste, dass man das Bulimie nannte.
Bulimie ist so alltäglich, dass viele ähnlich wie bei Magersucht heimlich die Augen rollen.
Ich damals übrigens auch.
Man denkt sofort an den bösen Einfluss sexistischer Medien, an strenge Eltern und diese Cartoon-Bildchen, in denen ein dürres Mädchen vor dem Spiegel steht und ein grotesk dickes Zerrbild betrachtet.
Jeder kann etwas dazu sagen. Jeder kennt irgendwen, der auch heimlich kotzt und ,,sich kaputt macht".
Ich wollte nicht jeder sein und etwas haben, das jeder kennt.
Und vor allem ging es mir erstaunlich gut. Nach der Schule zog ich weg in eine andere Stadt und begann ein neues, wirklich besseres Leben. Ich entwickelte einen eigenen Stil, schminkte mich ausgiebiger und entdeckte neue Seiten an mir. Ich fühlte mich nie wie ein suchtkrankes, trauriges Mädchen, sondern wie eine selbstbewusste Frau. Das Kotzen war eher wie ein ekliger Spleen, den ich halt einfach nicht mehr los wurde.
,,Ich kann Ihnen nur helfen, wenn Sie selbst davon überzeugt sind, Hilfe zu wollen."
,,Ich will ja Hilfe."
(Und vor allem will ich keinen Haarausfall mehr.)
Sie schweigt kurz.
Es waren die körperlichen Folgeschäden, die mich irgendwann aufrüttelten. Meine früher richtig gesunden, schönen Zähne wurden empfindlich und bekamen Löcher, einer bröckelte sogar ab. Meine Verdauung zickte immer mehr mit allen unschönen Nebeneffekten wie Blähungen, Krämpfe, Dauerbauchweh und Sodbrennen. Meine Haut wurde fleckig, dünn und trocken und verlangte immer mehr Make Up. Einmal wäre ich beinahe einsam auf einer Toilette verreckt, weil ich versucht hatte schnell hineingeschlungene Spagetti auszukotzen, die mir im Hals steckenblieben.
Und immer drehte sich alles um das Thema Schönheit. Immer wieder musste ich Fotos von meinem Bauch machen, ob er auch ja flach genug war. Ständig hob ich vor einem Spiegel mein T-Shirt an, um ,,zu überprüfen", dass ich nicht plötzlich zugenommen hatte. Kein Tag, an dem ich nicht ohne Make Up aus dem Haus ging, da ich mich ohne Schminke kränklich und angreifbar fühlte.
Mein Freund hatte Angst um mich und bat mich, mir Hilfe zu suchen. Er wollte mich nie drängen, aber gab deutlich zu verstehen, dass er das nicht mehr mit ansehen konnte. Auch meine besten Freundinnen, denen ich mich anvertraute, reagierten besorgt, aber verständnisvoll. Sie überredeten mich schließlich gemeinsam mit meinem Freund eine Beratungsstelle aufzusuchen.
Eine anonyme Selbsthilfegruppe in meiner Stadt, betreut von einer Therapeutin und vermittelt im Zentrum für Essstörungen (das es in fast jeder größeren Stadt gibt), war der erste gute Schritt, um zu erkennen, dass ich nicht alleine bin. Aber auch, um zu begreifen, dass ich keinen kleinen Spleen habe, sondern eine ernsthafte Krankheit und Hilfe brauche. Da die Wartezeiten für eine richtige Therapie mitunter ein halbes Jahr dauern können, hat diese Gruppe die Zeit gut überbrückt.
Seit einem Jahr bin ich nun in einer festen Therapie. Ich musste dafür weder mein Studium abbrechen noch meine gesamte Freizeit opfern. Viele Ängste, die ich zuvor hatte (,,am Ende schieben die mich in eine Klinik ab" , ,,meine Uni wird es mitbekommen", ,,eine Therapie kostet Geld") erwiesen sich als unbegründet.
Der Weg zum Sieg über diese Krankheit ist ein langer, mühsamer und sehr individuell. Ich lerne viel über mich selbst, über Komplexe, innere Konflikte und prägende Erlebnisse, aber auch über meine Stärken,Träume und Wünsche. Vor drei Wochen hatte ich dann nach 5 Jahren endlich die Kraft meinen Eltern von meiner Krankheit zu erzählen. Sie haben geweint und mich in den Arm genommen. Nun ziehen wir alle an einem Strang und das ist unheimlich berührend. Seit Neustem beginne ich langsam, Bilder von mir zu machen, wenn ich keinerlei Make Up trage. Ich will wieder lernen, mein Gesicht pur schön zu finden und nicht nur, wenn ich es entsprechend aufhübsche. Während ein Gang in den Supermarkt ohne dicke Schicht im Gesicht mittlerweile wieder einfacher möglich ist, fällt mir der Weg in die Uni ungeschminkt nach wie vor schwer. So lächerlich es klingt, aber ich ,,übe" es. Ziel dabei ist natürlich nicht, irgendwann für immer auf ein bisschen Aufhübschen zu verzichten, sondern ein normales Verhältnis zu meinem Gesicht und meinem Körper zu bekommen. Ich bin sicher, dass ich das schaffen kann.
Eines habe ich jedenfalls begriffen:
Bulimie ist eine Krankheit und kein Lifestyle, auch wenn es sich verdammt lang gut damit leben lässt. Erst hast du das Gefühl, dass sie wie ein helfender Freund dein Leben leichter macht. Bei einer Essstörung geht es um Kontrolle über den eigenen Körper, die eigene Schönheit und das eigene Leben. Aber ich verspreche dir, der Punkt kommt immer, wo nicht mehr du die Krankheit kontrollierst, sondern die Krankheit dich.
Die körperlichen Schäden spürst du vielleicht erst ein paar Jahre später. Aber dann - und das kann ich aus eigener Erfahrung sagen - wird es immer schwieriger Haarausfall, Verdauungsstörungen, bröckelnde Zähne und ständiges Bauchweh zu ignorieren.
Hole dir Hilfe, wenn du selbst betroffen bist. Und wenn du Freunde kennst, die mit einer Essstörung leben, biete ihnen ruhig und sachlich deine Unterstützung an. Manche Ihnen Mut, sich einem Hausarzt oder einer Beratungsstelle anzuvertrauen. Folgende Fakten sind für dich vielleicht gut zu wissen:
1) Eine Erst-Therapie bei einem Psychotherapeuten, der Kassenpatienten betreut, wird von der Krankenkasse im Regelfall übernommen. Dein Arbeitgeber, die Schule oder Uni werden NICHT davon in Kenntnis gesetzt.
2) Unter 18 Jahren brauchst du für eine Therapie nicht zwingend das Einverständnis deiner Eltern. Sprich in Ruhe mit einer Beratungsstelle oder direkt mit einem Therapeuten. Es gibt für den Notfall Möglichkeiten für den Therapeuten, mit deiner Krankenkasse Regelungen zu treffen, die nicht über deine Eltern laufen. Auch Selbsthilfegruppen sind völlig anonym und kosten abgesehen von einem Unkostenbeitrag nichts. Ein Therapeut macht zudem meist 4-5 Probestunden, bevor du dich verbindlich für eine Therapie anmeldest. Du darfst jederzeit abbrechen und bist zu nichts verpflichtet.
3) Du bist nicht oberflächlich, weil du eine Essstörung hast. In der Regel gibt es nicht DIE Ursache, sondern viele verschiedene Faktoren, die dich dazu getrieben haben. Ein Therapeut wird dir helfen, diese Dinge herauszufinden und aufzuarbeiten. Die Krankheit ist nur ein Sympthom tiefer liegender Probleme. Du wirst sie ohne professionelle Hilfe nur schwer besiegen können.
4) Bedenke aber: Es ist befreiend offen mit seiner Krankheit umzugehen. Ich hatte Angst wie meine Eltern reagieren würden, aber sie haben den anfänglichen Schock gut verkraftet und unterstützen mich nun liebevoll. Deine Eltern lieben dich und wollen, dass du gesund wirst. Wenn du Angst vor einem Gespräch hast, kannst du das auch der Beratungsstelle oder einem Therapeuten mitteilen. Niemand wird dir Druck machen oder dich zu etwas zwingen. Freunde, die dich deshalb auslachen oder eklig finden, sind keine Freunde. Menschen, die dich mögen, werden damit umgehen können, das verspreche ich dir.
Ich wünsche allen Betroffenen viel Kraft und Mut, sich dem Kampf zu stellen und die Krankheit nicht gewinnen zu lassen. Und ich hoffe, dass dieser Beitrag ein wenig sensibilisieren kann.
Eure Haparanda