Es klingelt. Der unbefestigte Pausenhof unserer Schule. Die billigen Turnschuhe wirbeln Staub auf. Kleine Gruppen stehen herum. Die Treppe runter zum Computerraum. Dort sitzen sie – die Kinder, vor denen dich deine Eltern warnen, aber zu denen du unbedingt dazu gehören willst. Mir ist schon klar, dass irgendwas passieren wird. Irgendetwas, was mich bis auf die Knochen blamiert und ihnen das Gefühl gibt, besser zu sein als ich. Irgendetwas, was mir die Tränen vor Traurigkeit und ihnen vor Lachen in die Augen treiben wird. Zu meiner Überraschung kann ich die Treppe heruntergehen, ohne einen blöden Spruch zu kassieren oder über ein Bein zu stolpern, was sie mir zufällig in den Weg stellen. Ich husche durch die Tür, doch natürlich er ist direkt hinter mir. Der Junge, den alle Mädchen anhimmeln und von dem ich mir nur wünsche, in Ruhe gelassen zu werden. Blonde Haare, graue Augen, er ist winzig, aber beliebt. Er verschwindet in seinem Klassenraum, ich muss gegenüber warten, dass die Tür aufgeschlossen wird. Seine Clique, sein Publikum steht bereit – irgendetwas wird doch noch passieren. Ohne zu zögern geht er auf mich zu und entleert den kompletten Inhalt des Mülleimers über meinem Kopf. „Das passt doch zu dir, hast du dir wohl verdient, Neele!“ Er lacht. Alle lachen. Nur meine beste Freundin schaut mich traurig an, schüttelt den Kopf und sagt: „So ein Idiot.“ Rein in die Klasse. 90 Minuten Ruhe vor dem, was unbedingt sehen möchte, wie ich kaputt gehe.
Und das hätte auch fast funktioniert. Damals war ich immer diejenige, über die gelacht und gelästert wurde. Menschen sind oberflächlich, sie schauen nicht genau hin. Und so sahen mich meine Mitschüler als das perfekte Opfer für ihre Form der Selbstverwirklichung.– Wie viel Leid kann eine jugendliche Seele eigentlich vertragen? Eine spannende Frage, wenn man nicht selbst das Versuchskaninchen sein muss. Ich war früher immer das Mädchen mit den mittelmäßigen Klamotten, den mittelmäßigen Haaren und den mittelmäßigen Sprüchen. Aber auch Mittelmaß ist manchmal nicht genug, vor allem dann nicht, wenn man gern mehr wäre als man in den Augen der anderen ist. Ich war das Mädchen, das sich schnell verliebt und ihr Glück ausgereizt hat. Das Mädchen, deren Eltern keine Klassenfahrt gezahlt und keinen Kuchenbasar unterstützt haben. Ich war das Mädchen, dem man ohne zu überlegen die Worte im Mund umdrehte und sie somit ins Fegefeuer der Intrigen von verwöhnten Pubertierenden schupste.
Auf dem Schulhof wurden Kreise um mich gezogen, die man nicht betreten durfte, damit die mir angedichteten Läuse nicht auf den nächsten überspringen. Für mein Fahrrad wurde ein zusätzliches Schloss mitgebracht, sodass ich meins nicht mit nach Hause bringen konnte, weil ich es nicht vom Fahrradständer los bekam. Neben mir saß niemand im Bus. – Ganz schön viel Aufwand den Schüler in der 8. Klasse betreiben, um jemanden aus den eigenen Reihen auszuschließen. Dieses Gefühl hat mich beinahe umgebracht. Das böse Erwachen am Morgen. Der Moment, in dem dir klar wird, dass du dich wieder an den Ort des Geschehens zurück trauen musst. Jeden Tag mit der neuen Hoffnung aufwachen, dass dieser Tag besser wird, dass man endlich angenommen wird – oder dass wenigstens der Drahtzieher mit den grauen Augen krank ist und nicht zur Schule kommt, um ein wenig Entspannung oder wenigstens Ignoranz seines Publikums zu erfahren.
Lange Zeit habe ich wirklich gedacht, dass es meine Schuld sei und dass es richtig ist, dass ich so behandelt werde. Denn natürlich habe ich mich auch nicht immer richtig verhalten. Irgendwann fängt man an Dinge zu tun, die man eigentlich nicht tun möchte, um endlich zu den Menschen dazuzugehören, die man bewundert. Man fängt an zu vergessen, dass man wahre Freunde hat. Man kehrt ihnen den Rücken zu – nur, um dann heftig auf die Schnauze zu fallen und zu verstehen, dass der einzige Grund dafür, dass einige Menschen scheinbar mehr angesehen sind als andere, Angst ist – die Angst vor dem Mittelmaß und Angst vor dem Untergehen in der Masse.
‚Wenn – wie bei mir – deine größte Sorge Mittelmaß ist und ich geh, bitte vergiss mich dann nicht!‘ (Casper) – Und genau das wird nie passieren, niemand wird vergessen. Es wird immer Menschen geben, die dir den Rücken stärken. Menschen, die verstehen, dass du versuchst dazuzugehören. Menschen, die dich wieder aufsammeln, wenn du damit mal wieder auf die Nase gefallen bist. Genau das macht eine wahre Freundschaft aus – und irgendwann ist man alt genug, um das zu reflektieren, um das zu verstehen und um genau das zu schätzen. Jeder muss seine eigenen Erfahrungen machen, aber lasst euch aus meiner Erfahrung sagen: Keine Clique und kein Mensch ist es wert, sich zu verstellen und täglich Angriffe über sich ergehen zu lassen.
Lasst nicht zu, dass jemand seinen persönlichen Mülleimer über eurem Kopf entleert. Haltet eurem besten Freund einen Platz im Bus frei. Schließt euer Fahrrad mit dem eurer besten Freundin an. Verschwendet euch nicht! Verschwendet euch nicht an Menschen, denen ihr nichts als einen Lacher in der Mittagspause wert seid. Wehrt euch gegen Mobbing. Steht auch für diejenigen ein, die täglich zum Spielball anderer Menschen werden. Seid mutig und seid laut. Seid der Mensch, dem ihr jeden Morgen mit gutem Gewissen ein Lächeln im Spiegel schenken könnt. – Ich bin mir sicher, dass war beim blonden Schönling von meiner Schule nicht jeden Morgen der Fall.
Alles Liebe, eure Neele von Royalcoeur ♥