Quantcast
Channel: kleiderkreisel.at Blog
Viewing all articles
Browse latest Browse all 1322

,,Und was machst du genau?!" - Das kleine Dilemma mit der Kulturwissenschaft

$
0
0

Wie viele andere KK-Blogleserinnen habe auch ich gespannt den tollen Beitrag über das Studienfach "Game Engineering" verschlungen und den Ruf vernommen, doch mehr Beiträge über außergewöhnliche Studienfächer zu veröffentlichen.

Deshalb stelle ich euch heute einfach mal mein Studienfach vor, nämlich die wunderbare, aber auch ebenso wundersame Kulturwissenschaft.

,,Irgendwas mit Kultur, ne?" - Was ist Kulturwissenschaft eigentlich?

Kaum ein Fach ist unter so vielen Namen bekannt wie die Kulturwissenschaft. Im Bild oben könnt ihr ein paar ausgewählte Fachbezeichnungen in Deutschland sehen. In Regensburg beispielsweise, wo ich seit Oktober 2011 studiere, nennt man es "Vergleichende Kulturwissenschaft". Obgleich die speziellen Ausrichtungen der einzelnen Lehrstühle natürlich variieren, studiert man doch im Endeffekt folgendes:

,,Man erforscht die Alltagskultur der breiten Bevölkerung in Europa"

Dabei analysiert man problemorientiert Aspekte des sozialen und kulturellen Lebens bestimmter Gruppen bzw. Milieus, aber auch von Einzelpersonen oder gar ganzen Bevölkerungsteilen und versucht dabei ebenfalls, vergangene und gegenwärtige Bezüge herzustellen.

,,Alltagskultur.. das ist doch irgendwie alles und nichts?"

Einfach ausgedrückt: Wir alle durchleben unseren Alltag - oft ohne groß darüber nachzudenken. Der Kulturwissenschaftler interessiert sich aber genau für diese scheinbar selbstverständlichen Abläufe. Er findet es beispielsweise spannend, wie wir unsere Wg-Party organisieren, wie das Schlafzimmer dekoriert wird, was für Postkarten wir verschicken, ob wir an den Weihnachtsmann glauben, weshalb wir keine Lust haben, mit Oma in die Kirche zu gehen, oder warum Batman eben cooler ist als Superman. Es geht ihm also unter Anderem um Geschmacksfragen, Gruppenbildungen, Wertewandel, Milieuunterschiede oder Rituale und Bräuche.

Da die Themenkomplexe für einen Kulturwissenschaftler schier endlos sind, hat jede Universität natürlich ihre Spezialgebiete. Meine Uni beschäftigt sich beispielsweise besonders mit dem populären Erzählen (Märchen, Briefe, filmisches Erzählen etc.), aber auch mit Fragen der Nahrungsforschung, Musikkultur und Werbung. In Tübingen kann man sogar in die Pornographieforschung hineinschnuppern und in Berlin besitzt die Modeforschung einen großen Stellenwert. Es lohnt sich also, die Ausrichtungen zu vergleichen, denn jeder hat ja seine besonderen Interessensgebiete.

Wie arbeitet denn ein Kulturwissenschaftler?

Gerade in den ersten Semestern lernt man zunächst einmal sein Handwerk, indem Theorien und Methoden erarbeitet werden. Das bedeutet, dass man sich durch eine Reihe von Begriffsdefinitionen kämpft wie "Kultur", "Brauch", "Identität", "Raum", "Globalisierung", "Ethnie" und so weiter. Das kann schon ein wenig ermüdend sein. Parallel dazu lernt man mögliche Methoden kennen, um ein Themenfeld zu erarbeiten. Ich habe beispielsweise im 1. Semester alte antisemitische (judenfeindliche) Postkarten aus dem 19. Jahrhundert mit Hilfe eines bildanalytischen Verfahrens untersucht oder bewaffnet mit Kamera, Diktiergerät und Block auf dem Weihnachtsmarkt eine Feldstudie durchgeführt. Dort galt es, das Besucherverhalten an bestimmten Ständen zu beobachten. Ebenso lernt man, Interviews zu führen, mit alten Archivalien zu arbeiten oder Umfragen zu erstellen.

Die Methoden der Kulturwissenschaftler sind sehr vielfältig und werden ständig an neue Entwicklungen angepasst. Früher haben beispielsweise viele Feldforscher verdeckt gearbeitet und sich als Landarbeiter ausgegeben, um das bäuerliche Leben zu studieren. Heute gilt ein wissenschaftlicher Ehrenkodex, niemanden im Namen der Wissenschaft bewusst hinters Licht zu führen. Kulturwissenschaftler arbeiten natürlich auch stark interdisziplinär. Geschichte, Medienwissenschaft, Kunstgeschichte, Soziologie oder Informationswissenschaft sind beliebte Kombinationsfächer.

"Kultur..aha, und was macht man später damit?"

Diese Frage hört man wohl am häufigsten und sie ist natürlich angesichts der unsicheren Arbeitsmarktlage nicht ganz unberechtigt. Tatsächlich ist die Kulturwissenschaft auf Platz 1 der Fächer mit dem schwersten Berufseinstieg, was daran liegt, dass man sich zwar ein breites Spektrum an Fähigkeiten und Themenkomplexen aneignet, jedoch für keinen speziellen Berufsweg ausgebildet wird. Beinahe immer – möchte man nicht den Weg der Forschung und Lehre wählen – gehört es zur Karriere dazu, eine Zusatzausbildung anzuhängen.

Dafür ist das Studium selbst jedoch voller Freiräume, um Praktika oder Auslandserfahrungen zu sammeln und bereits frühzeitig Kontakte zu verschiedenen Branchen zu knüpfen.

Viele Kulturwissenschaftler arbeiten anschließend in Museen, Archiven oder Kulturbetrieben (bspw. als Eventmanager), in der Werbe- und Marketingbranche, bei Presse, Film, Funk und Fernsehen oder bei Verlegern Es scheint beinahe nichts unmöglich, jedoch auch nichts vorgezeichnet. Das ist die größte Freiheit, aber auch gleichzeitig die größte Bürde des Studiums.

Warum man das Studium trotzdem wagen darf!

Trotz aller Unsicherheit genieße ich persönlich die große Freiheit, meinen Weg ganz nach meinen Interessen gestalten zu können. Ich kann an Themen arbeiten, die mich persönlich begeistern (momentan hat es mir die Erzählforschung in Comics und Videospielen angetan) und lerne mich und meine Identität ein Stück näher kennen. Das Studium hilft mir auch in anderen Ländern, kulturelle Strukturen aufzudecken und Stereotype zu entlarven. Das größte Geschenk ist für mich jedoch, den Menschen nicht als rein biologisch oder soziologisches Objekt, sondern als denkendes und fühlendes Wesen zu erforschen, welches von Erinnerungen und Gefühlen geprägt ist. Das macht für mich eine menschliche Wissenschaft aus.

 


Viewing all articles
Browse latest Browse all 1322